Ausstellung bis Samstag, 5. Juli im Untergeschoss:
MATERIAL WORD
CARL ANDRE: «SEVEN BOOKS OF POETRY», 1969
Carl Andre hat mit der Bezeichnung Minimal Art nie
viel anfangen können – er nennt sich, in Anlehnung an
seine Vorliebe für rohes Material, lieber «matterist»:
«The periodic table of elements is for me what the color spectrum is for the painter.»
Ehe ihm um 1965 jedoch der Durchbruch als Künstler gelingt, wird seine Arbeit nicht nur kaum beachtet – ein Galerist nutzt seine Skulpturen gar als Brennholz. Um unter diesen Umständen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, nimmt Andre einen Job als Bremser bei der Pennsylvania Railroad an. Ohne Atelier und ohne Mate-
rial, aber nicht ohne Ideen, macht er aus der Not eine Tugend und beschäftigt sich intensiv mit der Poesie,
die ihn schon von Kindesbeinen an fasziniert: Noch bevor er lesen konnte, haben ihn die Verse in den Gedichtbänden seines Vaters gepackt «by its plastic liveliness on the page compared to the dull grey clog
of prose».
Nun experimentiert er mit Stift und Papier wie auf der
Schreibmaschine, auf der jedes Zeichen gleich viel
Platz einnimmt und zum vorherigen resp. folgenden
Buchstaben den selben Abstand aufweist. Das erlaubt
es Andre, Buchstaben quasi als serielle Elemente zu
nutzen, was es wiederum ermöglicht, den Texten eine
skulpturale Erscheinung zu verleihen. Um zu diesen
Basis-Elementen zu gelangen, seziert Andre Sätze,
wählt und verknüpft er Worte
und Fragmente, stapelt
er Buchstaben und Satzeichen, bar jeglicher Syntax
oder Grammatik.
Diese Jahre von 1960 bis 1964 sind prägend für Andres
bevorstehendes Werk als Vertreter der Minimal Art – er
bezeichnet diese Periode als «my advanced degree in
sculpture». Und in dieser
Zeit entsteht der grösste Teil
jener sogenannten Poems, die Seth Siegelaub 1969 in
sieben Ordnern
und in einer Auflage von 36 Sets unter
dem Titel
«Seven Books of Poetry» herausgibt.
Einfachheit der Form,
nicht der Erfahrung
Als diese Bände 1969 erscheinen, hat Carl Andre
(*1935 in Quincy bei Boston) bereits nichts weniger
geschafft, als den Begriff der Skulptur neu zu defi-
nieren. Nach und nach hat er sie von dem befreit,
was eine Skulptur bis dahin erst zu einer Skulptur
gemacht hat: Volumen. So stehen Andres Werke
Ende der 1960er-Jahre dem Betrachter nicht mehr
gegenüber – sie breiten sich vor ihm auf dem
Boden aus, in Form von Backsteinen, rohem Holz,
schlichten Platten aus Zink, Kupfer, Blei, nach
simplen Regeln aneinandergefügt. Der bedeckte
Ort, das ist die Skulptur. ¹
Statt also in sein Material zu schneiden und es
zu bearbeiten, setzt Andre es als Skalpell ein, mit
dem er in den Raum schneidet. Diese präzis pla-
zierten Schnitte schärfen die Wahrnehmung der
Anwesenden dafür, dass der Raum sich durch
die schiere Präsenz der Materie anders anfühlt,
dass die Objekte durchaus spürbar sind. Das hat
wenig mit Gefühlen oder Intellekt zu tun. Aber
sehr viel mit Empfindsamkeit.
Kann man sich etwas Zurückhaltenderes vor-
stellen? Etwas, das weiter weg ist vom Pathos
des Künstlers und bar jeglicher höheren Sym-
bolik? Etwas, das das Individuum derart ernst
nimmt, dass es ihm keine Lesart nahelegt? Und
das den Menschen stärker schlicht und einfach
auf sich selbst und die eigene Existenz zurück-
zuwerfen vermag?
Kunst vermeidet das Unnötige, sagt Carl Andre –
er hat das konsequent umgesetzt und damit der
Minimal Art den Weg gebahnt. Selbst in einer
Zeit allerdings, in der die Wahrscheinlichkeit,
dass als Kunst durchgeht, was einer als Kunst
bezeichnet, so hoch ist wie nie, strapaziert die
Minimal Art immer noch eines manchen Vor-
stellung davon, dass diese Reduktion etwas mit
Kunst zu tun haben könnte. Nur: Einfachheit
der Form ist nicht unbedingt das Gleiche wie
Einfachheit der Erfahrung.
¹ Wobei: «I don’t think of them as being flat at all.
I think that, in a sense, each piece supports a column
of air that extends to the top of the atmosphere.
They’re zones. I hardly think of them as flat, any-
more than one would consider a country flat, just
because if you look at it on a map it appears flat.»
Carl Andre, 1970