Packende Einblicke in Carlo Domeniconis künstlerisches Schaffen geben eine neue Werkschau und ein bemerkenswerter Ausstellungskatalog.
VON MARTIN EDLIN
Es ist zwar eine Ausstellung neuer Werke des 61-jährigen Schaffhauser Künstlers Carlo Domeniconi, dessen Œuvre Malerei und Druckgrafik, Zeichnung, Plastik und Objekt umfasst.
Und doch weist die Werkschau, die der Kunstverein Schaffhausen als Gast in der Schaffhauser Galerie Mera jetzt präsentiert, fast den Charakter einer Retrospektive auf. Dies allerdings nicht im Sinn einer umfassenden Bilanz, sondern im Widerspiegeln eines ganzen facettenreichen Universums, das Domeniconi mit seinem Schaffen permanent und experimentierfreudig durchstreift und durchdenkt. «Gegenwart im Rückblick» müsste man vielleicht sagen, vor allem, wenn man ins Untergeschoss der Galerie steigt. Denn dort ziert unter dem Titel «Mnemosyne» – in der griechischen Mythologie die Göttin der Erinnerung und Mutter der neun Musen – ein Kaleidoskop aus mehreren Hundert kleinformatigen Bildern alle vier Wände eines Raums. Es sind Zeichnungen, Malereien, Skizzen in den verschiedensten Techniken, Konkretes neben Abstraktem, Surrealistisches neben Scherenschnittartigem, Stillleben neben Karikaturen. «Offenbarung der Gedanken des Malers» nannte es die Kunsthistorikerin Hortensia von Roda, Kuratorin der Graphischen Sammlung des Museums zu Allerheiligen und Geschäftsführerin der Sturzenegger-Stiftung, in ihrer Vernissagerede. Und weil diese Gedanken «viele Lesarten offen lassen» – auch weil sie oft von «Selbstironie und leisem Humor» getragen sind –, brauche es, das Gedankenlesen beziehungsweise «das Betrachten von Domeniconis Werken, viel Energie, ist aber nie langweilig». Wie wahr.
Ebenso als retrospektivisch könnte man die neuen Bilder des Künstlers zum Thema «Janusköpfigkeit» sehen, das ihn seit vielen Jahren beschäftigt (Janus, der römische Gott des Anfangs, des Durchgangs und des Endes): Ineinandergreifende geometrische Formen und Farben, Ausdruck des Dualen, also nicht des Zwiespältigen, sondern des die Gegensätze Verbindenden. Und schliesslich die Hinterglas-Palettenbilder wie «Die 7 Leben des Malers», eine Art symbolische Selbstporträts, Chiffren, die weit in der Vergangenheit ihren Ursprung suchen und ebenso weit in die Zukunft deuten. Roger Ballmer, Präsident des Kunstvereins Schaffhausen, der die grosse Gästeschar bei der Vernissage am Sonntag begrüsste, nahm diesen Faden auf: Carlo Domeniconi als «arriviert» zu bezeichnen, stimme sicher, wenn man damit be- und anerkannt meine. Im wortwörtlichen Sinn, nämlich am Ziel angekommen, sei der Begriff jedoch falsch: Zu ungebrochen sei die Kreativität des Künstlers, zu kraftvoll seine Lust an der kontinuierlichen Weiterentwicklung. Wer im Gedränge des Anlasses diese Perspektive nicht ins Auge fassen konnte, dem kann – neben einem zweiten Besuch der Galerie – der vom Kunstverein und von der Galerie Mera herausgegebene, sehr repräsentative Ausstellungskatalog empfohlen werden. Er enthält zu den Reproduktionen von Domeniconis Bildern einen viel zum Verständnis beitragenden Text («eine Annäherung an das Werk von Carlo Domeniconi») von Lucia Angela Cavegn. Der Titel (der Begriff der Retrospektive lässt grüssen): «Die Summe aller Aussagen».